Das rote Pferd – nicht das Blaue

Das Ölgemälde mittleren Formates „Pferd in Landschaft“ von Franz Marc aus dem Jahre 1910 besticht auf den ersten Blick durch seine Farbigkeit. Kaum ein anderer Künstler weiß so großeTeile des Bildes mit einer einzelnen und sehr intensiven Farbe zu füllen, ohne dass es stümperhaft wirkt. Kritiker könnten es kindisch nennen, jedoch wäre dies wiederum eher als Kompliment zu deuten, da Kinder mit einer verblüffenden Treffsicherheit Reales zweidimensional auf Papier bannen können, ohne sich der üblichen, gewohnten, tradierten Mittel zu bedienen (Pferd braun, Gras grün usw.).

Durch diese Farbbereiche werden die Bildelemente geschaffen, welche das Bild voll ausfüllen. Das rote Pferd im Vordergrund, Schopf, Mähne und bewegter Schweif in blau und schwarz, die Hügellandschaft in grün, rot, viel gelb, der blaue Fluss – all das ist expressionistisch farbkräftig, leicht verwischt und dennoch eindeutig erkennbar.

Faszinierend ist dabei die enorme Tiefe. Auf seine ganz besondere Weise schafft Marc es, den Raum „gefühlt“ dreidimensional abzubilden. Mehrere Kilometer weit erstreckt sich die Natur über Hügel und Baumgruppen bis hin zur Bucht eines Meeres oder zu einem großen See. Bildkompositorisch lässt der Maler den Betrachter seitlich versetzt hinter dem Pferd stehen, sodass man beides – Tier und Landschaft – im Blick hat. Vom Pferdekörper ist nur die obere Hälfte zu sehen, was die räumliche Nähe unterstützt. Trotz der ruhigen Szene wirkt das Bild wie eine Momentaufnahme. Das Fluchttier Pferd ist ständig in Bewegung (der Kopf hebt und senkt sich, der Schweif schwingt hin und her, die Beine stehen selbst beim grasen nicht still), sodass dieses Bildereignis größtenteils aus einer Erinnerung entstanden sein muss – heutzutage könnte man als Vorlage eine Fotografie vermuten.

Nach eingehenderer Betrachtung überzeugt das Gemälde vor allem durch die Formgebung und Anordnung der Bildelemente. Sie lassen den Betrachter in das Geschehen eintauchen und geben mehr als nur einen Gedankenanstoß.

Mich hat das Bild zum träumen gebracht.

Es ist ein heißer Sommertag. Über die weitläufigen Hügel weht nur eine leichte Brise vom Meer herüber. Auch das Pferd glüht in der Sonnenhitze. Nur sein Langhaar verschafft ihm ein wenig Kühlung und hält ihm die schwirrenden Insekten vom Leib. Das trockene Gras unter meinen Füßen knistert und raschelt ein wenig als ich mich dem Tier nähere. Es hatte mich schon lange bemerkt. Zudem kennt es meine Art mich zu bewegen, hat meinen Duft schon lange gewittert und sein Ohrenspiel verriet mir, dass es meine Atemzüge in der Mittagsstille hören kann. Als ich es fast erreicht habe, dreht es mir den Kopf zu und ich kann in seine braunen Augen sehen. Sie haben eine ungeahnte Tiefe, ähnlich der Weite der Natur vor uns. Bevor ich mich darin verlieren kann schnaubt das Pferd, was ich als Duldung meiner Anwesenheit verstehe. Die Stille ist jetzt unserem Dialog gewichen. Ich strecke ihm meine Hand entgegen und raune ihm zu. Vorsichtig berührt es meine Fingerspitzen mit seinen langen Tasthaaren, um dann mit einem tiefen, warmen Atemzug in meine Handfläche zu pusten. Nach dem Genuss dieser freundlichen Begrüßung geselle ich mich neben das Pferd und wir betrachten einen Moment lang gemeinsam die Landschaft.

Plötzlich hebt das Tier den Kopf etwas höher und spitzt die Ohren Richtung Wasser. Dort hinten, noch ein ganzes Stück hinter dem Fluss, sehen wir undeutlich ein Schiff auf dem Meer. Es scheint ins Landesinnere zu navigieren, obwohl es in der Bucht keinen Hafen gibt. 

Eine Sekunde zögern wir, doch ohne Worte ist es klar: Wir setzen uns gleichzeitig in Bewegung, um der Sache auf den Grund zu gehen.

2 thoughts on “Das rote Pferd – nicht das Blaue

  1. Ein sehr schöner Artikel, Camilla! Das einzige, was mir fehlt ist die Auseinandersetzung mit der gelben Fläche – mit der ich persönlich ein Rapsfeldes assoziiere. Daher spreche ich es noch mal an, auch, wenn ich mir nicht sicher bin, ob Franz Marc dieses mit dieser Farbe wirklich darstelle wollte^^

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*